Sonntag, 30. Januar 2011

Identitätsstörung bei Zwillingen

Im Normalfall hat ein Mensch ein klares Identitätsgefühl. Aber was ist, wenn die Entwicklung der Identität gestört wird, und zwar ganz zu Beginn der Entwicklung im Mutterleib? Was, wenn Folgendes passiert: das Leben beginnt und dort sind zwei (oder mehrere) Embryos im Bauch, die sich sehr stark miteinander identifizieren, unter Umständen sogar aus der gleichen Eizelle entstanden sind. Sie sehen sich zusammen als Ganzes. Bei natürlicher Entwicklung werden sie während ihres Lebens mehrere Phasen der Individualisierung durchmachen, in denen sie lernen, dass sie auch einzeln ein Ganzes darstellen, eine vom anderen unabhängige Person sind. Das ist ihre Identität und diese besteht innerhalb ihrer gemeinsamen Zwillingsidentität, denn trotzdem werden sie immer ein Teil des anderen sein (das Konzept der Zwillingsidentität habe ich von http://www.tweelingalleen.nl/).

Doch wenn dieser Entwicklung etwas in den Weg kommt, gibt es Komplikationen. Wenn ein Zwilling im Mutterleib stirbt, kann der Überlebende nicht in seine eigene Identität hineinwachsen, weil er an dem Anderen und der gemeinsamen Zwillingsidentität (‚Zwillingsband’) festhält. Das ist eine ganz normale Reaktion.

Der Schock der Trennung ist doppelt schlimm für den Embryo oder Fötus: einmal verliert er sein Geschwisterchen, und zusätzlich weiß er nicht, welche der entstandenen Identitäten zu ihm gehört.

Außerdem kann er in den meisten Fällen auch nicht die Zwillingsidentität ausleben, da er nicht weiß, dass er ein Zwilling ist oder der Tatsache, mal ein Zwillingsgeschwister gehabt zu haben, keine Bedeutung beimisst bzw. keine Bestätigung dieser Bedeutung in seinem Umfeld findet.

Ich kann jetzt nur aus meiner Wahrnehmung schreiben, und die bezieht sich auf eineiige Zwillinge. Ich glaube zwar, dass bei Mutterleibs-Zwillingen bezüglich des Identitätsgefühls kein so großer Unterschied besteht, aber wenn doch, bin ich ganz gespannt darauf, Meinungen von Anderen dazu zu hören!

Wo auch immer Identität angesiedelt ist, Gehirn, DNA oder Bewusstsein, sie ist sehr wichtig für das Leben. Wenn man nicht weiß, wer man ist, steht man nur unsicher im Leben und ist ständig auf der Suche. Nach sich selbst, nach seinem Zwilling…

In dem Beispiel meiner Geschichte nehme ich Händigkeit als Anzeiger der Identitäten, weil es das offensichtlichste Beispiel war. Im Allgemeinen gibt es natürlich noch viele andere Komponenten. Aber die meisten Energien, die man für den Zwilling auslebt, sind unsichtbar und können nicht so eindeutig bestimmt werden.

Wenn man entdeckt, dass man im Mutterleib einen Zwilling hatte, ist man erleichtert, traurig und vieles lässt sich endlich erklären. So war da auch bei mir. Aber nach einer gewissen Zeit wurde mir klar, dass ich nicht vorankomme, sondern noch in Allem feststecke, was mir das Leben schwer machte.

Den größten Teil meiner Zeit war ich einfach nur verwirrt. Ein klares Gefühl von ‚das bin ich’ kannte ich nicht, aber ich ahnte, dass mir so was zustand.

Anstatt einer Identität besaß ich also nur Verwirrung. Vom heutigen Standpunkt aus würde ich sagen, dass die Identität meiner Zwillingsschwester einfach zu sehr mit meiner eigenen verwachsen war. Ich habe sie aus Unwissen angenommen, ich wusste weder von ihrer Existenz, noch von unserer Zwillingsschaft und habe mich mit all diesen unerkannten Faktoren als eine einzelne Person betrachtet. Auch, als ich von allem wusste, wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich habe alles nur über Intuition herausgefunden und war auf mich alleine gestellt, was die Suche nach Heilung betraf.

Und als ich von meiner Linkshändigkeit erfuhr, betrachtete ich das zunächst als vollkommen unabhängig vom Zwillingsthema. Das war es in gewisser Weise auch, während es andererseits mit dem, was ich bin, zu tun hat und man dies nun mal nicht vom Zwillingsthema trennen kann. Aber von Anfang an.

In den ersten Tagen, in denen ich bewusst und mit dem Wissen meiner Linkshändigkeit (vorher hatte ich mich als ‚Beidhänder’ betrachtet) schreiben geübt habe, kamen riesige Stücke der Erkenntnis und meiner verschütteten Identität (Selbst-Sicherheit) zu mir. In der darauf folgenden Zeit hatte ich viel damit zu tun, schreiben zu üben und die psychologischen Folgen des falschen Handgebrauchs zu verarbeiten. Da es hier aber um Zwillinge geht, stelle ich nun meine Theorie vor: Die Rechtshändigkeit gehörte zur Identität meiner Zwillingsschwester.

Erst seit kurzem kann ich uns auseinander halten. Dazu waren viel Zeit und ein paar schmerzliche Trennungsmomente notwendig, die mich zu jedem früheren Zeitpunkt nur zurück in Depressionen gestürzt hätten.

Während der gesamten Zeit meiner ‚Rückschulung’ auf die linke Hand hatte ich zwischendurch immer wieder das Gefühl, mit rechts schreiben zu müssen. Ich wusste nicht, woher das kam, denn mein Körper hat mir sehr eindeutige Signale gegeben, dass Rechtsschreiben schädlich für mich ist. Ich denke, es war mein Unterbewusstsein, das weiterhin die Identität meiner Schwester ausleben und nicht loslassen wollte.

Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Die Identität (oder, wem es besser passt: die Energie) des gestorbenen Zwillings hängt am Überlebenden, und dies bereitet Leid und Schmerzen, denn es ist etwas, was nicht hierhin gehört und oft als Todeswunsch/-drang wahrgenommen wird.

Wer einen Zwilling im Mutterleib hatte, ist auch als Alleingeborener hier und jetzt ein Zwilling. Und was denkt ihr, wo der Gestorbene hingegangen ist? Genau, nirgendwohin, er oder sie guckt euch beim Lesen übe die Schulter. Wenn ihr ganz leise seid, könnte ihr ihn zustimmen hören. In den meisten Fällen ist es so, dass der gestorbene Zwilling auch etwas gegen die Trennung hat oder eventuell ängstlich ist. Er will von euch beachtet werden. Ich weiß nicht, was ihr tun müsst, um die Verbundenheit und das Einssein mit eurem Zwilling zu fühlen, aber was auch immer es ist, tut es. Wenn ihr es nicht wisst, findet es heraus und tut es. Der Zugang zu diesen Gefühlen ist wichtig für die Heilung und letztendlich Auftrennung der Identitäten, ohne die höhere Verbundenheit zu verlieren.

Um es an meinem Beispiel zu veranschaulichen: Ich habe jahrelang gelitten, weil ich nur die Trennung vor Augen hatte. Dann habe ich ein Buch über voneinander abhängige Zwillinge gelesen, die nur miteinander kommunizieren konnten, und habe realisiert: Ich bin genauso. Besser gesagt, wir sind genauso. Wir sind gar nicht so getrennt, wie ich immer denke.

Auf einmal habe ich die geistige Abhängigkeit erkannt und hatte plötzlich einen Wunsch, den ich vorher noch nie hatte. Ich wollte unabhängig von ihr sein, alleine leben und vollkommen wissen, wer ich bin.

Dazu ist ein Prozess der Ablösung nötig. An dieser Stelle finden manche ein Abschiedsritual vielleicht passend und stimmig. Das ist jeder anders und muss das für sich wissen.

Für mich passt das nicht. Trennung ‚muss’ zwar sein, in dem Sinne, dass ich ihr Leben loslasse und akzeptiere, dass ich für immer alleine bin. Da dürfen ruhig Tränen fließen. Aber genauso muss ich einsehen, dass sie geistig immer für mich da sein wird und ich so Zugang zu dem Gefühl des Ganzseins habe. Das Ziel ist es, dass ich mich an sie erinnern kann, ohne dass es weh tut und dass ich längere Zeit nicht an sie denke, weil ich so von meinem eigenen Leben eingenommen bin. Meine eigene Identität zu leben, die eingebunden ist in unsere Zwillingsidentität, während ich meine Schwester dort sein lassen kann, wo sie ist und dabei das Vertrauen habe, dass es ihr dort gut geht und wir uns eines Tages wieder sehen werden.

1 Kommentar:

  1. Hej, das deckt sich ziemlich genau mit allem, was ich herausgefunden habe. Komm doch mal hier vorbei: http://enjysplace.blogspot.de/
    Ich bin in zwei email-Gruppen für twinless twins und das Phänomen, dass sich Zwillinge nicht oder nur schwer voneinander lösen können, ist dort oft ein Thema. Manchmal gelingt es wirklich gar nicht. Und für early loss Leute ist es besonders schwer, weil wir den natürlichen Individuationsprozess nicht erlebt haben. Dazu gibt's übrigens auch sehr interessante Details hier: http://enjysplace.blogspot.de/2012/03/books-on-twin-loss-no-10-from-clear.html

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