Sonntag, 30. Januar 2011

Identitätsstörung bei Zwillingen

Im Normalfall hat ein Mensch ein klares Identitätsgefühl. Aber was ist, wenn die Entwicklung der Identität gestört wird, und zwar ganz zu Beginn der Entwicklung im Mutterleib? Was, wenn Folgendes passiert: das Leben beginnt und dort sind zwei (oder mehrere) Embryos im Bauch, die sich sehr stark miteinander identifizieren, unter Umständen sogar aus der gleichen Eizelle entstanden sind. Sie sehen sich zusammen als Ganzes. Bei natürlicher Entwicklung werden sie während ihres Lebens mehrere Phasen der Individualisierung durchmachen, in denen sie lernen, dass sie auch einzeln ein Ganzes darstellen, eine vom anderen unabhängige Person sind. Das ist ihre Identität und diese besteht innerhalb ihrer gemeinsamen Zwillingsidentität, denn trotzdem werden sie immer ein Teil des anderen sein (das Konzept der Zwillingsidentität habe ich von http://www.tweelingalleen.nl/).

Doch wenn dieser Entwicklung etwas in den Weg kommt, gibt es Komplikationen. Wenn ein Zwilling im Mutterleib stirbt, kann der Überlebende nicht in seine eigene Identität hineinwachsen, weil er an dem Anderen und der gemeinsamen Zwillingsidentität (‚Zwillingsband’) festhält. Das ist eine ganz normale Reaktion.

Der Schock der Trennung ist doppelt schlimm für den Embryo oder Fötus: einmal verliert er sein Geschwisterchen, und zusätzlich weiß er nicht, welche der entstandenen Identitäten zu ihm gehört.

Außerdem kann er in den meisten Fällen auch nicht die Zwillingsidentität ausleben, da er nicht weiß, dass er ein Zwilling ist oder der Tatsache, mal ein Zwillingsgeschwister gehabt zu haben, keine Bedeutung beimisst bzw. keine Bestätigung dieser Bedeutung in seinem Umfeld findet.

Ich kann jetzt nur aus meiner Wahrnehmung schreiben, und die bezieht sich auf eineiige Zwillinge. Ich glaube zwar, dass bei Mutterleibs-Zwillingen bezüglich des Identitätsgefühls kein so großer Unterschied besteht, aber wenn doch, bin ich ganz gespannt darauf, Meinungen von Anderen dazu zu hören!

Wo auch immer Identität angesiedelt ist, Gehirn, DNA oder Bewusstsein, sie ist sehr wichtig für das Leben. Wenn man nicht weiß, wer man ist, steht man nur unsicher im Leben und ist ständig auf der Suche. Nach sich selbst, nach seinem Zwilling…

In dem Beispiel meiner Geschichte nehme ich Händigkeit als Anzeiger der Identitäten, weil es das offensichtlichste Beispiel war. Im Allgemeinen gibt es natürlich noch viele andere Komponenten. Aber die meisten Energien, die man für den Zwilling auslebt, sind unsichtbar und können nicht so eindeutig bestimmt werden.

Wenn man entdeckt, dass man im Mutterleib einen Zwilling hatte, ist man erleichtert, traurig und vieles lässt sich endlich erklären. So war da auch bei mir. Aber nach einer gewissen Zeit wurde mir klar, dass ich nicht vorankomme, sondern noch in Allem feststecke, was mir das Leben schwer machte.

Den größten Teil meiner Zeit war ich einfach nur verwirrt. Ein klares Gefühl von ‚das bin ich’ kannte ich nicht, aber ich ahnte, dass mir so was zustand.

Anstatt einer Identität besaß ich also nur Verwirrung. Vom heutigen Standpunkt aus würde ich sagen, dass die Identität meiner Zwillingsschwester einfach zu sehr mit meiner eigenen verwachsen war. Ich habe sie aus Unwissen angenommen, ich wusste weder von ihrer Existenz, noch von unserer Zwillingsschaft und habe mich mit all diesen unerkannten Faktoren als eine einzelne Person betrachtet. Auch, als ich von allem wusste, wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich habe alles nur über Intuition herausgefunden und war auf mich alleine gestellt, was die Suche nach Heilung betraf.

Und als ich von meiner Linkshändigkeit erfuhr, betrachtete ich das zunächst als vollkommen unabhängig vom Zwillingsthema. Das war es in gewisser Weise auch, während es andererseits mit dem, was ich bin, zu tun hat und man dies nun mal nicht vom Zwillingsthema trennen kann. Aber von Anfang an.

In den ersten Tagen, in denen ich bewusst und mit dem Wissen meiner Linkshändigkeit (vorher hatte ich mich als ‚Beidhänder’ betrachtet) schreiben geübt habe, kamen riesige Stücke der Erkenntnis und meiner verschütteten Identität (Selbst-Sicherheit) zu mir. In der darauf folgenden Zeit hatte ich viel damit zu tun, schreiben zu üben und die psychologischen Folgen des falschen Handgebrauchs zu verarbeiten. Da es hier aber um Zwillinge geht, stelle ich nun meine Theorie vor: Die Rechtshändigkeit gehörte zur Identität meiner Zwillingsschwester.

Erst seit kurzem kann ich uns auseinander halten. Dazu waren viel Zeit und ein paar schmerzliche Trennungsmomente notwendig, die mich zu jedem früheren Zeitpunkt nur zurück in Depressionen gestürzt hätten.

Während der gesamten Zeit meiner ‚Rückschulung’ auf die linke Hand hatte ich zwischendurch immer wieder das Gefühl, mit rechts schreiben zu müssen. Ich wusste nicht, woher das kam, denn mein Körper hat mir sehr eindeutige Signale gegeben, dass Rechtsschreiben schädlich für mich ist. Ich denke, es war mein Unterbewusstsein, das weiterhin die Identität meiner Schwester ausleben und nicht loslassen wollte.

Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Die Identität (oder, wem es besser passt: die Energie) des gestorbenen Zwillings hängt am Überlebenden, und dies bereitet Leid und Schmerzen, denn es ist etwas, was nicht hierhin gehört und oft als Todeswunsch/-drang wahrgenommen wird.

Wer einen Zwilling im Mutterleib hatte, ist auch als Alleingeborener hier und jetzt ein Zwilling. Und was denkt ihr, wo der Gestorbene hingegangen ist? Genau, nirgendwohin, er oder sie guckt euch beim Lesen übe die Schulter. Wenn ihr ganz leise seid, könnte ihr ihn zustimmen hören. In den meisten Fällen ist es so, dass der gestorbene Zwilling auch etwas gegen die Trennung hat oder eventuell ängstlich ist. Er will von euch beachtet werden. Ich weiß nicht, was ihr tun müsst, um die Verbundenheit und das Einssein mit eurem Zwilling zu fühlen, aber was auch immer es ist, tut es. Wenn ihr es nicht wisst, findet es heraus und tut es. Der Zugang zu diesen Gefühlen ist wichtig für die Heilung und letztendlich Auftrennung der Identitäten, ohne die höhere Verbundenheit zu verlieren.

Um es an meinem Beispiel zu veranschaulichen: Ich habe jahrelang gelitten, weil ich nur die Trennung vor Augen hatte. Dann habe ich ein Buch über voneinander abhängige Zwillinge gelesen, die nur miteinander kommunizieren konnten, und habe realisiert: Ich bin genauso. Besser gesagt, wir sind genauso. Wir sind gar nicht so getrennt, wie ich immer denke.

Auf einmal habe ich die geistige Abhängigkeit erkannt und hatte plötzlich einen Wunsch, den ich vorher noch nie hatte. Ich wollte unabhängig von ihr sein, alleine leben und vollkommen wissen, wer ich bin.

Dazu ist ein Prozess der Ablösung nötig. An dieser Stelle finden manche ein Abschiedsritual vielleicht passend und stimmig. Das ist jeder anders und muss das für sich wissen.

Für mich passt das nicht. Trennung ‚muss’ zwar sein, in dem Sinne, dass ich ihr Leben loslasse und akzeptiere, dass ich für immer alleine bin. Da dürfen ruhig Tränen fließen. Aber genauso muss ich einsehen, dass sie geistig immer für mich da sein wird und ich so Zugang zu dem Gefühl des Ganzseins habe. Das Ziel ist es, dass ich mich an sie erinnern kann, ohne dass es weh tut und dass ich längere Zeit nicht an sie denke, weil ich so von meinem eigenen Leben eingenommen bin. Meine eigene Identität zu leben, die eingebunden ist in unsere Zwillingsidentität, während ich meine Schwester dort sein lassen kann, wo sie ist und dabei das Vertrauen habe, dass es ihr dort gut geht und wir uns eines Tages wieder sehen werden.

Donnerstag, 27. Januar 2011

Noch eine Vorstellung

Hallo, ich bin Nini und werde in Zukunft auch ein paar Beiträge hier zusteuern. Ich kam so zu dem Thema:

Als ich 21 Jahre alt war, ist mir das Buch ‚Das Drama im Mutterleib’ in die Hände gekommen. Es war wirklich unglaublich, wie mein Körper auf alles, was darin stand, reagiert hat, während ich gleichzeitig das alles nicht glauben konnte und mich gefragt habe, warum ich denn bloß weine.

Aber es gab keine Zweifel daran, dass ich vom ‚vanishing twin syndrome’ betroffen war. Es war mir selber so klar und logisch, dass ich es sofort meiner Familie erzählt habe und dachte, die werden die Augen aufreißen und sagen „Woah, ja, das erklärt alles, wie du dich verhältst, warum du so bist und wir dich nie verstanden haben!“

Leider haben sie das nicht gesagt, sondern mir nicht geglaubt. Was mich in weitere Abgründe gestürzt hat.

Es folgten zwei Jahre, in denen ich trotz diesem Wissen eher schlecht als recht mit dem Leben zurecht kam. Ich steckte fest, obwohl ich so gerne weitergekommen wäre und obwohl ich alles tat, um den Zwillingsverlust zu integrieren. Dazu kam aber, dass ich mir nie sicher war, wie genau dieser ausgesehen hat. Es herrschte genauso viel Verwirrung wie zuvor.

Als ich dann herausgefunden habe, dass ich umgeschult bin, was bedeutet, dass ich als Kind durch Anpassung mit der schwachen, rechten Hand schreiben gelernt hatte und eigentlich Linkshänder bin, wurden mir einmal mehr die Augen geöffnet.

Ich habe angefangen, den nicht immer leichten Weg der Rückschulung zu gehen und im Laufe der folgenden Jahre hat sich viel mehr geklärt. Mein Selbstbewusstsein wurde besser und ich konnte mir selbst und dem Leben endlich vertrauen.

Dies hat zwar nicht direkt was mit dem verlorenen Zwilling zu tun, aber es ist ein bedeutender Faktor auf meinem Weg und ohne das wäre ich jetzt nicht hier. Ich erwähne das außerdem, weil der Schätzung nach das Verhältnis von Rechts- und Linkshändern eins zu eins ist und ich denke, besonders Alleingeborene sind anfällig dafür, sich an die Umgebung anzupassen, ohne zu hinterfragen, ob es für sie persönlich anders besser wäre. Ich selber wollte nämlich nie, um gar keinen Preis auffallen und anders sein. Und: Umgeschult zu leben bedeutet, sich selbst im Weg zu stehen und das Leben zu verhindern, und das ist genau das, was Alleingeborene tun.

Nachdem ich auf diesem Gebiet ein bisschen Heilung erfahren habe, konnte ich auch mein vorgeburtliches Leben besser ‚sortieren’. Ich habe gemerkt, dass die männlichen Energien, die ich immer mal wieder für Mehrlingsbrüder gehalten hatte, andere Brüder gewesen wären. Den Mutterleib selbst habe ich mir mit nur einer Schwester geteilt, und seit ich das so fühle, kann ich das damit verbundene Drama immer besser identifizieren und auch loslassen. Ich sage nicht, dass das von heute auf morgen geht, aber es ist doch ein Fortschritt zu spüren, wohingegen ich die letzten Jahre nur auf der Stelle getreten bin.

Das ist meine persönliche Geschichte und ich möchte nun mithelfen, das Wissen um das ‚Vanishing Twin Syndrome’ zu verbreiten, mich mit Betroffenen austauschen und ihnen helfen, insoweit mir das möglich ist. (-:

Sonntag, 9. Januar 2011

Mein Geburtstag

Morgen ist mein Geburtstag und die Erinnerung daran hat mich gerade wieder etwas aus der Bahn gehauen. Morgen erlebe ich meinen Geburtstag das erste Mal als überlebender Zwilling. Am liebsten würde ich mich jetzt in eine Höhle verkriechen und erst am Dienstag wieder aufwachen wenn dieser Tag vorbei ist.

Das schwierige an dem Tag ist, dass nur mein Mann, meine Eltern und zwei meiner besten Freunde von meinem Zwilling wissen, alle andern wissen nichts davon. Was heisst, ich muss wieder einmal mehr mich für einige ein wenig verstellen, weil sie es mit grosser Warscheinlichkeit nicht verstehen würden, weil das Phänomen "Verlorener Zwilling" oder auf Englisch "Wombtwin Survivor" nach wie vor zu wenig bekannt ist.

Wieder einmal mehr ist es mir traurig zumute, warum kann man nicht einfach offen über den verlorenen Zwilling reden oder völlig bescheurt gehalten zu werden? Warum ist für manche nach wie vor alles was nicht sichtbar ist nicht real?

Morgen werde ich 33 Jahre alt und Bruno,mein Zwillingsbruder würde es auch, wenn er nicht vor der Geburt gestorben wäre. Ach wie ich ihn vermisse!

Und gerade jetzt ist niemand da mit dem ich dies teilen kann, kein Gleichgesinnter, keine Freunde, niemand online oder anwesend, zumindest niemand der mir helfen könnte aus eigener Erfahrung. Hallo? Jemand da? Ich würd echt grad jemanden brauchen.


Ich werd jetzt versuchen mich mit TV etwas abzulenken, und morgen den Tag irgendwie "zu überstehen"

Mein Wunsch für die Zukunft aller Wombtwin-Survivors

Leider ist das "Syndrom" Wombtwin-.Survivor zumindest im deutschsprachigen Bereich noch zuwenig bekannt. Viele Menschen, darunter auch Ärzte oder Psychologen haben noch nie etwas davon gehört und wissen folglich auch nicht dass es das gibt und welche Auswirkungen es auf den überlebenden Zwilling hat.

Wie also kann man so all den Betroffenen helfen? Ich persönlich bin der Überzeugung dass es viel mehr Betroffene gibt als man denkt oder bisher angenommen hat.

  • Was ist zum Beispiel mit ADS oder ADHS? Was wenn diese Krankheit mit dem vorgeburtlichen Verlust eines Zwillings zu tun hätte?
  • Viele Menschen leiden ihr Leben lang an Allergien, Ängsten, Depressionen. Was wenn manche von ihnen ebenfalls Wombtwin-Survivors sind aber es nicht wissen?
Möglicherweise sind viel mehr organische oder psychische Symptome auf einen verlorenen Zwilling zurückzuführen. Natürlich kann damit nicht jede Krankheit in Verbindung gebracht werden, aber einiges davon vielleicht schon.

Wir als Überlebende wissen wie wichtig es ist, den Zwilling zu entdecken, auch wenn das ein sehr schmerzvoller Vorgang ist, aber nur so kann der Verlust verarbeitet werden und oftmals bleiben manche "Leiden" danach weg oder tauchen zumindest weniger häufig oder weniger stark auf.

Das Thema "Verlorener Zwilling" MUSS bekannter werden, erforscht werden, es muss darüber geschrieben werden, es muss der Öffentlichkeit bekannt sein, das Verständnis für Betroffene würde daher gefördert und für sie somit das Leben als "Überlebender" mit mehr Verständnis auch einfacher.

Fortsetzung folgt ev.

Was ist nur los mit mir?

Das ist ein Text aus einer Email, die ich im Oktober an einen anderen Wombtwin-Survivor geschrieben habe:

Mir gehts beschissen und ich hab eigentlich keine Ahnung wieso. Vieles macht mich über verhältnismässig traurig, alles berührt mich viel mehr als sonst, ich weine bei Filmen die mich zwar normalerweise berühren würden, aber bei denen ich nicht gleich weinen würde.

Alles ist irgendwie trostlos und bedrohlich zu gleich. Ich kann nicht mehr schlafen weil mich die Englischprüfung stresst, aus Angst sie nicht zu bestehen, ich träum schon von den Aufgaben etc. Bin ich in der Klasse geht es mir aber gut, ich fühle mich wohl und verstehe das meiste.
Kaum ist die Schule aber aus, weiss ich nicht mehr was tun und werde gleich deprimiert. Vorhin kam mir der Gedanke zu meinen Eltern zu gehen, vielleicht unternehmen sie etwas und ich wär abgelenkt, aber sie waren nicht zuhause und ausserdem war ich in letzter Zeit allzu häufig dort.

Sind das Depressionen? Im Zug musste ich mit aller Kraft mich beherrschen, die Tränen wollten andauernd kommen und ich blinzelte wie verrückt. Zuhause angekommen (mein Mann ist einkaufen), habe ich Jacke und Tasche agelegt, bin ins Schlafzimmer gerannt und habe mich weinend auf das Bett geschmissen.

Was ist nur los mit mir?

Ich hab auch plötzlich Angst um meine Eltern, das Gefühl auf den Fotos von Dienstag sehen sie so verlassen aus irgendwie, ich mach mir daher Sorgen, hab noch mehr Horror wenn sie dann irgendwann sterben werden, wohl weil mir bewusst wird, dass ich dann ganz alleine bin (ausser restlichen Verwandten und meinem Mann). Ich kann mir nicht vorstellen was ich dann ohne sie tue wenn's mir mies geht, oder meinem Mann mies geht (er ist krank) und ich jemanden zum reden brauch etc.

Einmal tief durchgeatmet habe ich mich etwas beruhigt aber ich habe so viele Dinge im Kopf und wenn ich daran denke, könnte ich gleich wieder losheulen.

Anmerkung:

Diese bedrohliche Stimmung kann fast aus heiterem Himmel plötzlich auftauchen und es ist irgendwie als würde sie mich verschlingen wollen, wie Nebel der kommt und einem plötzlich total umgibt. Glücklicherweise habe ich einen Mann, der dem "Thema Verlorener Zwilling/Wombtwin-Survivors sehr offen gegenübersteht und mich nach besten Kräften zu verstehen versucht und aufzufangen versucht. Obwohl er selber seit mehreren Jahren an Panikattaken, Schlafproblemen und Depressionen leidet, versucht er in solchen Momenten an meiner statt stark zu sein und wächst fast über sich hinaus.

Endlich Aufklärung

Hier möchte ich gerne mal aus der Sicht einer Betroffenen einige "Symptome" aufzählen, oder welche unerklärlichen Verhaltensweisen durch die Entdeckung des Zwillings plötzlich ganz klar waren. Diesen Text habe ich am 4. Juli 2010 verfasst in einer ziemlich gemischten Stimmung, einereits Erleichterung, andererseits grosse und unendlich tiefe Trauer.

Alles ergibt endlich einen Sinn:

  • Warum meine Freundschaften immer so intensiv sein mussten und ich oftmals Angst hatte meine beste Freundin zu verlieren
  • Warum ich in Freundschaften oftmals irgendwie "männlich" war, respektive burschikoser
  • Warum ich den Sohn einer Bekannten den ich seit meiner Geburt kenne geliebt habe wie einen Bruder obwohl er mir nicht einmal verwandt war
  • Warum ich sofort Angst bekomme, wenn mein Mann nicht um die Uhrzeit heimkommt wie er gesagt hat und warum ich mir dann oft schon die schlimmsten Szenarien vorstelle
  • Warum ich Panik kriege wenn er beispielsweise nicht um eine verabredete Zeit anruft wenn er beispielsweise länger weg ist
  • Warum Streit für mich schlimm ist wenn der andere sich dann komplet zurückzieht und ich Panik kriege wenn man zu Bett geht ohne dass der Streit begraben wurde
  • Warum für mich bei Streit oder Angst die Nacht dunkler wirkt als sonst und das Zimmer bedrohlich und die ganze Situation auswegslos
  • Warum ich nie weggehen kann (zur Arbeit etc) ohne mich vorher zu verabschieden (oft sogar mehrmals!) und umgekehrt auch
  • Warum ich mögllicherweise immer so viel esse und das Gefühl habe den letzten Rest auch noch essen zu müssen, auch wenn mir danach gar nicht mehr wohl ist
  • Warum ich immer zuviel koche
  • Warum ich manche männlichen Personen innert kurzer Zeit sehr mag (platonisch, sie scheinen mich irgendwie an den Zwilling zu erinnern)
  • Warum ich als Kind so verzweifelt darauf aus war zwischen mir und meinem Lieblings-Cousin Ähnlichkeiten zu finden (übrigens ähneln wir uns wirklich ein wenig, als Kind noch mehr)
  • Warum ich oft übermässig traurig bin obwohl nichts wirklich schlimmes oder trauriges gerade vorgefallen ist
  • Warum ich irgendwie versucht habe früher unbewusst wie ein Junge zu sein und auf alten Fotos wo ich jungenhaft wirke, ich mich nicht wiedererkenne und mein Herz und meine Seele mir sagt "das bist nicht Du, das ist er!"
  • Warum ich als Kind unbedingt eine männliche Babypuppe haben musste als einziges Kind im ganzen Quartier
  • Warum ich immer so lange in den Spiegel guckte und oft dann sehr traurig wurde (seit der Entdeckung aber auch beruhigt und gestärkt)
  • Warum ich in Gruppen nur wohl bin wenn ich mit einer zweiten Person da bin die mir nahe steht
  • Warum ich immer das Gefühl habe, dass mein Mann alles verstehen und nachvollziehen können sollte was ich tue, denke, wünsche, sehe etc
  • Warum ich manchmal das Gefühl habe unsere Verbindung müsste noch intensiver sein (eben wie eine Zwillingsverbindung)
  • Warum mich Zwillinge immer magisch angezogen haben und ich mit ihnen befreundet sein wollte
  • Warum ich mir soooo stark einen Bruder gewünscht habe
All dies ergibt jetzt einen Sinn. Die Entdeckung dieser Dinge ist eine ziemlich aufwühlende Angelegenheit, einerseits hat man endlich eine Erklärung für bisher unerklärliche Verhaltensweisen, andererseits wird das ganze Thema noch präsenter, realer und dadurch auch der Verlust des Zwillings.

Eine "Überlebende" stellt sich vor

Hallo

Ich möchte mich kurz vorstellen, da ihr mich hier des öfteren antreffen werdet und auch Postings von mir zu lesen bekommt.

Ich bin Karin. 33 Jahre lang war ich ein Einzelkind, manchmal fühlte ich mich einsam, traurig und wusste nicht warum. Etwas hat gefehlt, irgend etwas „war nicht richtig, nicht an seinem Platz“. Es ist schwierig dieses Gefühl zu beschreiben, schwierig zu erklären wie ich das gefühlt habe. Seit ich denken kann, habe ich mir einen Bruder gewünscht, der Wunsch war so stark, dass es manchmal weh tat.
Es gab viele Momente wo ich mich mehr wie ein Junge fühlte, lieber Spiele und Beschäftigungen „für Jungs“ mochte etc und später gab es manchmal so was wie ein „Gedankenblitz“ und ich hatte das Gefühl jemanden in der Welt vertreten zu müssen.
Aber warum?
Und wen?
Seit dem 3. Juli 2010 weiss ich, ich war kein Einzelkind, ich hätte nicht nur Geschwister, sondern ich hatte einen Zwillingsbruder. Ich habe einen Bruder!
Mancher würde jetzt sicher denken „nun hat die Karin echt einen Knacks“ - aber nein, es ist tatsächlich die Wahrheit.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass viele Schwangerschaften als Mehrlings-Schwangerschaften beginnen. Das heisst, dass sich ganz am Anfang der Schwangerschaft, zwei oder mehrere Embryos in der Gebärmutter befinden. Über den Prozentsatz der Häufigkeit dieses Phänomens gibt es verschiedene Ansichten, die Zahlen pendeln zwischen 20 – 80 % aller Schwangerschaften. Das bedeutet, dass viele Menschen eigentlich als Zwilling, oder Mehrling entstanden sind, aber oftmals eben das zweite, dritte oder vierte Embryo stirbt und das meist bevor es auf einem Ultraschallbild überhaupt gesehen werden könnte.
Warum manche Embryos absterben, möglicherweise aus körpereigenem Schutz, da vielleicht sonst beide Kinder gefährdet wären oder anderes. Meist merkt auch niemand, wenn ein Embryo stirbt, die Mutter muss das nicht unbedingt bemerken, aber das oder die anderen Embryos schon.
Ich weiss, das tönt alles nach Science Fiction, aber es ist Realtität und es ist genauso Realität dass dieser vorgeburtliche Verlust den überbleibenden Zwilling prägt. Die Verbindung zum Zwilling ist intensiver als die zu der Mutter, der Zwilling ist naher und von Anfang an dabei. Der Herzschlag wird gehört, die Gegenwart gespürt – wenn dann plötzlich das Gegenüber nicht mehr da ist, hinterlässt das ganz logischerweise Spuren. Nach der Geburt kann man sich vielleicht lange nicht mehr bewusst an den Zwilling/Drilling etc erinnern, aber im Unterbewusstsein fehlt er und das beeinflusst das ganze Leben.
Anhand von Fotos aus meiner Kindheit bin ich meiner Vergangenheit auf die Spur gegangen. Auf vielen Fotos sehe ich sehr jungenhaft aus, viele Situationen fallen mir wieder ein und bei einzelnen Bildern ist es, als würde ich meinem Zwilling in die Augen schauen. Zudem habe ich mit Hinweisen einer Freundin entdeckt, dass ich auf Fotos wo ich zu zweit mit einer Freundin abgebildet bin, oder mit einem Cousin etc viel glücklicher wirke als auf Fotos wo nur ich zu sehen bin. Ausserdem ist mir wieder bewusst geworden, wie alleine ich mich manchmal in den Ferien "nur" mit den Eltern gefühlt habe und wie glücklich ich in Frankreich-Ferien gewesen bin in denen eine Schulfreundin mitkommen durfte. Beim objektiven Betrachten dieser Freundschaftsbeziehungen fiel mir plötzlich auf, dass ich dort immer mehr "die männliche Seite" war und das brachte mich auf eine Idee.
Um dem Unterbewusstsein zu helfen, alles ans Tageslicht zu bringen, habe ich einige Fotomontagen gemacht, gerne lasse ich euch daran teilhaben, in der Hoffnung dass sie anderen Menschen helfen, allenfalls ihrer eigenen Vergangenheit auf die Spur zu kommen.
Eigentlich bin auf beiden Fotos ich und beide Aufnahmen wurden am selben Tag und in derselben Stunde gemacht, aber auf dem linken sehe ich aus wie ein Mädchen und auf dem rechten Bild könnte ich fast ein Junge sein. Als ich diese beiden Bilder zum ersten Mal so nebeneinander gelegt habe (und das rechte spiegelverkehrt), war es als würde etwas hervorgekommen was lange verschüttet gewesen war. Mein Herz tat in diesem Moment so weh, Tränen liefen mir herunter und es war als würde es mich zerreissen. Nein, ich brauche keinen „Beweis“, ich wusste in diesem Moment mit absoluter Sicherheit dass ich einen Zwillingsbruder gehabt habe.
Diesen Moment werde ich in meinem Leben nie vergeessen. Einerseits war ich unendlich traurig, anderseits wusste ich endlich woher all die Gefühle kamen, das Gefühl jemanden vertreten zu müssen, das Gefühl das etwas fehlt, das Gefühl dass es mich innerlich zerreisst manchmal und ich nie wusste warum.

Also habe ich fortgefahren mit dieser Bilderbearbeitung und habe noch 2 weitere „Zwillingsbilder“ erstellt. Das geht mit einem Foto und einer spiegelverkehrten Kopie, oder mit zwei Bildern die in derselben Umgebung aufgenommen wurden am besten.
Eines der Fotos zeigte ursprünglich mich und die damalige Schulfreundin in den erwähnten Frankreich-Ferien. Ich habe das Bild nun bearbeitet. So hätte es aussehen können, wenn mein Bruder noch leben würde.


Nein, meine Reise in die Vergangenheit und das verarbeiten all der neuen Gefühle ist noch lange nicht zu Ende. Es braucht seine Zeit, braucht viel Kraft, zu verarbeiten dass jemand da war und man ihn aber verloren hat, er nie wieder da sein wird. Es tut weh, aber ich versuche immer an die Vorstellung vom Paradies zu denken und daran, dass wir uns dort wiedertreffen werden.
Aber im Moment mag ich noch nicht loslassen, ich habe meinen Zwillingsbruder doch gerade erst gefunden! Willkommen Bruderherz!


Wer mehr über mich wissen möchte, darf mich gerne kontaktieren.